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01.05.2025

Lesung am 23.05.2025 in Ediger-Eller

Am Freitag den 23.05.2025 besuchen wir wieder einmal Ediger-Eller an der schönen Mosel und lesen Koblenz-Geschichten und andere Schätzchen aus unserer Raritäten-Kiste. Seid dabei !! Weitere Infos folgen...



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Jürgen Gebhardt               

 

JÜRGEN GEBHARDT, 1957 IN KOBLENZ GEBOREN, SEIT DER JAHRTAUSENDWENDE IM UNTEREN WESTERWALD LEBEND, LIEBT DIE NATUR, SPORT, MUSIK, LITERATUR SOWIE GUTE GESPRÄCHE UND GESELLIGES ZUSAMMENSEIN MIT NETTEN, INSPIRIERENDEN MENSCHEN.
„TUCHSCHERER AG“ IST SEINE ERSTE VERÖFFENTLICHUNG ZUM THEMA BÜRO, ARBEIT UND DEN TÜCKEN DES MANAGEMENTS.


 




Die Sache mit den Überstunden


Kurt Waldvogel kann etwas, womit sich die meisten seiner Kollegen äußerst schwertun. Er besiegt seinen inneren Schweinehund. Tag für Tag. Wie sonst ließe es sich erklären, dass er es schafft, sich um exakt 4:40 Uhr aus dem Bett zu schrauben. Ohne Zeit zu verlieren, wickelt er seine morgendliche Routine ab und steht pünktlich an der Haltestelle, um den 5:25er zu nehmen, aus dem er knapp vierzig Minuten und fünf Haltestellen später gegenüber dem Werkstor aussteigt. Auch wenn er oft todmüde war oder es ihm nicht gut ging, es gab nur wenige Tage, seit er bei Tuchscherer arbeitet, an denen er sich nicht als erster der Verwaltungsmitarbeiter durch das Drehkreuz am Pförtnerhaus von Walter Schmonke geschoben hatte. Ohne nach rechts oder links zu blicken, strebt er eiligen Schrittes dem Eingang des Turms entgegen. Unten stehen die beiden Aufzüge, der markante Geruch des Reinigungsmittels liegt noch in der Luft, dann fährt er hoch auf die 10. Dort teilt er sich mit mehreren Kolleginnen und Kollegen das Großraumbüro, in dem die Lohnabrechnung ihrer Arbeit nachgeht.
Zwar beginnt er immer bereits um Punkt sechs Uhr fünfzehn mit seiner Arbeit, als Arbeitsbeginn trägt er aber erst sieben Uhr in TimEx ein. In der Arbeitszeitordnung ist festgelegt, dass man keine vorgelagerten Überstunden vor dem offiziellen Arbeitsbeginn sieben Uhr aufschreiben darf, obwohl sich Waldvogel sicher ist, dass genau das nicht wenige seiner Kollegen machen. Vor allem die Spätaufsteher, die zumeist erst im letzten Augenblick kurz vor neun Uhr angehetzt kommen, schreiben sicherlich frühere Check-In-Zeiten auf, vermutet er. Wie sonst sollen manche von denen denn auf so viel Freizeitausgleich kommen, um aus einzelnen Brückentagen mehrtägige Urlaube zusammenzubasteln? Meyer aus den Debitoren scheint so einer zu sein, nur um mal ein Beispiel zu nennen. Kommt spät, überzieht regelmäßig die Mittagspause mit seinen Spaziergängen auf dem Friedhof. Wie bekommt der seine Soll-Stunden zusammen? Der dröge Heisner aus den Kreditoren und dann erst dieser Wittbecker – ach, lassen wir das. Ich kenne meine Pappenheimer, dafür bin ich schon zu lange dabei, denkt er oft. Spät kommen, früh gehen, aber zum Monatsende viele Überstunden in TimEx summieren, das haben wir gern.
Aber, ich weiß ja, warum ich erst ab sieben Uhr aufschreibe, überlegt er. Einerseits ist das seine Art der Loyalität dem Unternehmen gegenüber. Als Auszubildender hatte er mit siebzehn hier angefangen, hatte noch den alten Richard Tuchscherer II. erlebt, der nun in Öl im Foyer hängt und vor sich hin staubt als einer der Gespenster der Firmengeschichte. Den er jedes Mal still grüßt, wann immer er an dem Gemälde vorbeigeht. Großer Mann, der Vater vom Alten!
Vor allem will er aber beweisen, dass er in der Lage ist, das immer größer werdende Arbeitspensum zu bewältigen, ohne Überstunden aufzuschreiben. Wer Überstunden aufschreibt, will zeigen, dass er unentbehrlich ist, das ist seine feste Überzeugung. Er aber schreibt seit fast zehn Jahren keine Überstunden mehr auf und er ist sich sicher, dass sich das bereits sehr bald auszahlen wird. Wenn er erst einmal zum Leiter der Lohn- und Gehaltsabrechnung ernannt werden wird.
Der Job wird im kommenden Frühjahr frei, Gerhard Vollmer geht in Ruhestand. Endlich! Das wird der ersehnte Karrieresprung! Spät zwar mit Mitte fünfzig, aber nicht zu spät. Natürlich wird er sich intern bewerben müssen, aber das dürfte sicherlich eine Pro-Forma-Sache sein. Für ihn ist das eine Once-in-a-lifetime-Chance, die er auf keinen Fall verpassen will. Oft schon hatte er die Pros und Kontras für eine Beförderung auf einem Blatt Papier aufgeschrieben.
Pros links, Kontras rechts.
Da sind eine Menge Pros: Grenzenlose Loyalität, bestechende Genauigkeit, neununddreißig Jahre Berufserfahrung, fachliches Expertenwissen, keine Überstunden. Und so weiter. Kontras fielen ihm keine ein, so intensiv er auch nachdachte. So sehr er sich auch bemühte, objektiv zu sein, die rechte Spalte blieb leer. Die Waage neigt sich deutlich zu einer Seite.
»Du weißt ja, dass das Nichtaufschreiben freiwillig geleisteter Mehrarbeit den Tatbestand der Unterschlagung von Überstunden erfüllt. Lass dich nicht erwischen, das ist kein Kavaliersdelikt und immer wieder Gegenstand im Monatsgespräch mit der Geschäftsführung«, hatte ihn der Betriebsratsvorsitzende Gerhard Jörgensen wiederholt im Scherz gemahnt, aber keine Verhaltensänderung bei Kurt Waldvogel herbeiführen können.
Jörgensen! Der nervt! Der hat gut reden. Tatbestand der Unterschlagung von Überstunden! Wenn ich so einen Scheiß höre, denkt Waldvogel in solchen Momenten. Als Betriebsratsvorsitzender ist der von der Arbeit freigestellt, der weiß gar nicht mehr, wie das ist, wenn man wie ich tagtäglich in der Tretmühle steckt. Wieso habe ich diesen Kerl überhaupt gewählt? Klar, Jörgensen war mal auf dem aufsteigenden Ast, lang ist es her, wurde aber aus irgendwelchen Gründen nie für größere Aufgaben berücksichtigt. Eigentlich ein Ausnahmetalent, mit herausragenden Eigenschaften gesegnet. Aber irgendwas muss da schiefgelaufen sein, aber darüber redet der nie, natürlich nicht. Aber wer weiß, vielleicht hat es nur an seiner großen Klappe gelegen. Alle im Unternehmen wissen aber auch, dass er ein fauler Hund ist, der nur Sprüche klopft.
»Früher, als ich noch gearbeitet habe«, hat er vor ein paar Wochen doch glatt zu Waldvogel gesagt. Mit süffisantem Lächeln, Brotdose unter dem Arm, einen Pott Kaffee in der Hand und die Tageszeitung, um sich damit ins Betriebsratsbüro zurückzuziehen.“ Jetzt ist Sprechstunde, aber ihr wisst ja, ihr könnt mich immer ansprechen, wenn was ist. Betriebsratstätigkeit, das macht man nicht so nebenbei, das ist 24/7, aber das seid ihr mir wert. Das weißt ja auch du, Kurt.«
Man darf nicht denken, dass die Human Resources (aka Personalabteilung) Personaleinstellungen so ganz nebenbei vornehmen würde. Es geht schließlich nicht um den Einkauf von Gütern und Dienstleistungen, wie es Sittlers Einkaufstruppe täglich macht. Nein, es geht um das Wichtigste im Unternehmen. Die Human Resources. Der Mensch steht, seit es das neue Management gibt, wieder im Mittelpunkt der Tuchscherer AG. So steht es in den Leitlinien des Unternehmens, so wurde es auch von Frau Dr. Müller-Briner in einer Extraausgabe der Tuchscherer@WORK sorgfältig ausgeführt. Da will man sich in keinem Fall vorwerfen lassen, dass man bei Einstellungen fahrlässig handeln würde oder gar nach Nasenfaktor befördere, wie der Betriebsrat immer wieder gerne behauptet. Besonders knifflig ist es aber, Stellen im eigenen Bereich zu besetzen und die Notwendigkeit, die Stelle des Leiters der Lohn- und Gehaltsabrechnung (immerhin mit Personalverantwortung für vierzehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) aus den eigenen Reihen zu besetzen, kommt nicht alle Tage vor und verlangt in der Argumentation bei der Besetzung besonderes Feingefühl. Da dürfen nicht persönliche Ansichten zählen, sondern Fakten. Harte Fakten.
So ist es eine Selbstverständigkeit, dass Frau Dr. Rita Müller-Briner, die den Personalbereich seit der überraschenden Freistellung von Werner Reichelt quasi über Nacht in Personalunion neben ihrer eigentlichen Aufgabe als CHRO übernehmen musste (double position, one income!), diese Personalie als Chefsache ansieht und sich die Entscheidung über die Stellenbesetzung selbst vorbehält. Natürlich nicht, ohne sich vorher ausgiebige Informationen über diverse Kanäle eingeholt zu haben.
»Also, da wären …«
Natalie Bick, die Assistentin von Frau Müller-Briner, legt ihrer Chefin zwei Bewerbungsmappen auf den Tisch, »zwei interne Kandidaten, die in die entscheidende Auswahl gekommen sind und die Sie natürlich sehr gut kennen.
Kurt Waldvogel, siebenundfünfzig Jahre alt, seit dreiunddreißig Jahren im Unternehmen, davon mehr als ein Vierteljahrhundert in der Personalabteilung. Lohnabrechnung. Ruhig, loyal und zuverlässig. Ledig, kinderlos.
Dann noch Asena Bellinzona. Zweiundvierzig Jahre. Seit zwölf Jahren in der Gehaltsabrechnung tätig. Alleinerziehend, zwei Kinder.«
Frau Dr. Müller-Briner blättert in den Unterlagen. Sieht sich in aller Ruhe die Lebensläufe und Zeugnisse an. Dazu die internen Notizen. Strictly Confidential!
Für einen Moment lehnt sie sich zurück, blickt einige Sekunden aus dem Fenster, scheinbar mit den Gedanken ganz weit weg.
»Sag mal, Natalie, dieser Waldvogel«, sagt sie ruhig, »hier steht ein Vermerk, dass er es mit der Pünktlichkeit sehr genau nimmt. Sag nur, ist das einer dieser Nine-to-five-Typen? Einer von denen, die immer zeitig gehen?«
Natalie Bick blickt verlegen zu Boden. Dann sagt sie, kaum hörbar, ohne Frau Müller-Briner anzusehen: »Na ja, ich würde mich niemals trauen, das so zu sagen. Ist schließlich ein Kollege. Allerdings ist es wirklich so, dass er jeden Tag pünktlich im 15:32er sitzt.«
»Ach interessant! Wie er den Bus wohl bekommt, wo die Kernzeit doch erst um 15:30 Uhr endet. Von der 10 runter zum EG, dann zum Werksausgang und noch die paar Meter zur Bushaltestelle. Und das in zwei Minuten. Hmm, sportlich, sportlich. Na ja, manche sind halt sehr freizeitorientiert. Dazu sehe ich, dass er seit mindestens zehn Jahren keine Überstunden gemacht hat, so lese ich es aus der Zeitstatistik. Und wer keine Überstunden macht, der zeigt damit, dass er nicht ausgelastet ist. Klingt profan, ist aber eine alte Erfahrung. Wissenschaftlich untermauert.«
Die letzten Worte sagt Dr. Müller-Briner mehr zu sich selbst.
»Und die andere Bewerberin, was wissen wir über die?«
»Asena Bellinzona«, antwortet Natalie Bick. »Arbeitet in der Gehaltsabrechnung. Rechnet jeden Monat Überstunden ab und nicht zu knapp. Scheinbar superfleißig und dass, obwohl sie zwei kleine Kinder zuhause hat und in Scheidung lebt. Also, ich bewundere sie schon, wie sie das alles so gewuppt bekommt.«
Asena Bellinzona erhält die frohe Nachricht für die Beförderung, als sie aus einem vierzehntägigen Urlaub zurückkehrt, den sie unter Ausnutzung von Brückentagen und dem Abfeiern von Überstunden als zusätzliche Urlaubsbrücke zwischen Oster- und Pfingsturlaub gelegt hatte.
Als Kurt Waldvogel wie jeden Morgen um 6:15 Uhr sein Outlook öffnet, sieht er die Einladung zu einem persönlichen Gespräch mit Human Resources. In dem zwei Tage später stattfindenden Gespräch teilt man ihm Gründe für die Ablehnung mit und definiert dem siebenundfünfzigjährigen im Rahmen eines persönlichen Förderprogramms neue Ziele für seine zukünftige Entwicklung.
Human Resources ist froh, nach objektiven Kriterien die richtige Entscheidung getroffen zu haben und schließt den Vorgang. Man hat sehr wohl erkannt, dass der Ausweis von Überstunden ein bedeutender Indikator für Fleiß ist und hat entsprechend gehandelt.


© Jürgen Gebhardt 2025




Die Identitätskrise 


Auszug aus: 


An manchen Tagen fühlt sich Dr. Andreas Anders recht einsam im Turm oben auf der 12. Das sind diese Momente, in denen er sich danach sehnt, nicht rund um die Uhr die erdrückende Bürde des CEO der Tuchscherer AG auf seinen Schultern spüren zu müssen.

An solchen Tagen möchte er Einer unter Vielen sein, aber die Position bringt es mit sich: Die Distanz zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist der Preis für seinen Erfolg und das Gedeihen des Unternehmens.
Zwar ist er auf Kurs, sein Fünfjahresvertrag befindet sich noch in der ersten Hälfte der Laufzeit und die Geschäftsentwicklung lässt auch in diesem Jahr auf einen niedrigen sechsstelligen Bonus hoffen. Aber Geld allein macht nicht glücklich, wer wüsste das nicht besser als Dr. Anders? Nein, manchmal wünscht er sich, nicht CEO mit allen Pflichten und Verantwortungen zu sein, sondern seine Arbeit auf einer der unteren Ebenen verrichten zu können, um mit dem Ablegen der Arbeitskleidung am frühen Nachmittag bei einer Flasche Bier vor dem Fernseher den Feierabend genießen zu können. Unbeschwert und ohne ständig an die Herausforderungen denken zu müssen, die im Unternehmen auf ihn warten.
Aber so sehr er sich auch oft nach der Anonymität und Unbeschwertheit eines einfachen Fabrikarbeiters sehnt, so sehr quält ihn immer wieder die Verantwortung seiner Position, sobald er das Verwaltungsgebäude betritt, um hinauf auf die 12 zu fahren. An den Blicken der Mitarbeiter - allesamt Untergebene, to name it! - meint er zu erkennen, dass sie genau spüren, was er ist und was sie niemals sein werden.
Nach einer langwierigen, quälenden Selbstfindungsphase muss er sich eingestehen, dass sich eine Entfremdung zwischen ihm und seinen Mitarbeitern entwickelt hat. Eine Distanz, die er verringern möchte; wenn er doch nur wüsste, wie! Er handelt mit seiner Frau Sylvia aus, einmal im Monat aus dieser Situation entfliehen zu dürfen. An diesem einen Abend möchte er sich unters Volk mischen. Mal die Rotarier, den Golfclub (Handicap 9), den Manager-Circle hintenanstellen. Dafür den einfachen Vergnügungen des kleinen Mannes nachgehen.
Das Trikot aus dem Fanshop des FC, beflockt mit der „12“ und dem Namen „ANDI“ in Großbuchstaben auf dem Rücken sitzt um den Bauch herum zwar etwas eng, aber er beschließt, dieses erstmal unter dem Hoodie mit dem Tuchscherer-Firmenlogo und der Aufschrift GEMEINSAM! zu tragen, den er im vergangenen Jahr für ein Outdoor-Survival-Management-Training des oberen Führungskreises hat anfertigen lassen. Für einen Moment überlegt er, sich eine Karte für die Haupttribüne zu kaufen. Aber nein, sitzt da nicht immer der tumbe Dr. Hentschel? Zusammen mit Sokolow? Diesem aufsässigen Rebellen! Und überhaupt, er hat ja beschlossen, sich unters Volk zu mischen. Also kauft sich Dr. Anders eine Stehplatzkarte für die Südkurve, eine Stadionwurst und ein Bier im Plastikbecher, bevor er sich an einen Wellenbrecher im oberen Teil der Kurve stellt.
„Ey, das ist ja mal eine geile Kutte! So ein Tuchscherer-Ding, wusste gar nicht, dass es sowas gibt!“
Der junge Mann neben ihm starrt ihn an, die Zigarette in seinem Mundwinkel wackelt bei jedem Wort.
„Mensch, ich kenn doch das Logo. Bin selbst in dem Laden. In Halle 1, an der kleinen Presse, der HSK 905/3. Meist Nachtschicht, das gibt am meisten Kohle. Wir pressen anderthalber Alu-Linkshänder-Spülbecken in verschiedenen Größen. Meist für den Benelux-Markt. Übrigens, ich bin Hendrik de Jong. Kannst aber ruhig Henk zu mir sagen, sagen alle so.“


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Dies ist der Beginn der Kurzgeschichte „Die Identitätskrise“.
Wie es mit Dr. Anders und dessen neuen Bekannten Henk de Jong weitergeht, lesen Sie in der Kurzgeschichtensammlung „Tuchscherer AG – Kurzgeschichten rund um Büro und Fabrik“. Ab sofort über den Online-Buchhandel zu beziehen.


 

  © Jürgen Gebhardt        Dezember 2023

 

 

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