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16.11.2023, 09:03

Lesung Neuhäusel 2024

Abgesagte Lesung in Neuhäusel wird voraussichtlich im April 2024 nachgeholt. Weitere Infos folgen.   mehr


13.10.2023, 12:05

Lesung in Lonnig

Am Freitag den 17,11,2023 werden wir in Lonnig lesen.    mehr




 

Jürgen Gebhardt               

 

JÜRGEN GEBHARDT, 1957 IN KOBLENZ GEBOREN, SEIT DER JAHRTAUSENDWENDE IM UNTEREN WESTERWALD LEBEND, LIEBT DIE NATUR, SPORT, MUSIK, LITERATUR SOWIE GUTE GESPRÄCHE UND GESELLIGES ZUSAMMENSEIN MIT NETTEN, INSPIRIERENDEN MENSCHEN.
„TUCHSCHERER AG“ IST SEINE ERSTE VERÖFFENTLICHUNG ZUM THEMA BÜRO, ARBEIT UND DEN TÜCKEN DES MANAGEMENTS.


 





Gimme shelter


Willis Kopf ruckt einmal, zweimal, fast unmerklich. Beim dritten Mal scheint er irgendwie eingerastet zu sein. Jetzt hängt er tief nach vorneüber. Knapp über dem Teller. Bewegt sich nicht mehr.
Gelangweilt sehe ich kurz auf, werfe ihm einen uninteressierten, flüchtigen Blick zu; ich kenne das ja von ihm. So ist das fast jeden Tag. Dann widme ich mich wieder dem Vanillepudding, den ich mit dem Plastiklöffel schnell in mich reinschaufele. Willi pennt jetzt, wenn ich schnell bin, kann ich mir gleich noch seinen Pudding einverleiben. Und sollte er wach werden, werde ich ihm sagen, er hätte ihn selbst gegessen. Merkt der nicht, der merkt sowieso nichts mehr.
„Heute Nachmittag ist Gruppennachmittag. Da will ich, dass ihr alle mitmacht. Das macht uns  immer so viel Spaß. Um 15:30 Uhr geht’s los, gleich nach dem Kaffeetrinken“, sagt Magdalena mit völliger Gleichgültigkeit in ihrer Stimme. Magdalena. Wie kommt die zu diesem Namen? Ein Name wie aus einem längst vergangenen Jahrhundert, aber sie ist eine junge Frau. Ich sehe ihr gerne nach in ihrer engen, weißen Hose, die einen so schönen Hintern macht. Wenn man einen hat, wie Magdalena.
Die am Frauentisch zeigen keine Reaktion, still schaufeln sie ihren Pudding in sich rein. Magdalena und ihre Kolleginnen beginnen, das Geschirr von den Tischen zu räumen, ohne darauf zu achten, ob die Teller geleert sind. Stellen es auf Rollwagen und fahren mit diesem zum Aufzug, die Spülküche liegt im Untergeschoß.
Die Sonne scheint durch das geöffnete Fenster, das Zwitschern der Vögel wird durch einen Traktor übertönt, der nah am Gebäude vorbeifährt. Vom Feld her weht der strenge Geruch frisch aufgebrachter Gülle in unseren Essraum.
Ich rücke den Stuhl ein wenig nach hinten, die beiden Puddings haben mich satt gemacht. Dienstag ist immer gut. Schnitzeltag. Zuerst eine Suppe, dann Schnitzel mit Kartoffeln und Salat. Dazu eine leckere Soße, in die ich mit Wonne die Kartoffeln zerdrücke. Das hat mir immer  gut geschmeckt, über neunzig Jahre schon. Mutter sagte immer, ich würde matschen. Hier darf ich das, ich soll ja nicht abnehmen. Hauptsache, rein damit. Das garantiert Lob beim wöchentlichen Wiegen.
„Signorina, due espressi“, rufe ich. Aber mein Rufen verhalt, hier wird das nichts. Darauf reagiert niemand. Hier gibt es nur Filterkaffee. Koffeinfrei. Muckefuck, kannste vergessen!
Die Rollstuhlrallye hat begonnen. Pfleger rollen die Bewohner in ihre Zimmer. Einige schieben mit ihren Rollatoren selbstständig davon. Teresa brabbelt, sie habe Hunger. Hat bereits wieder vergessen, dass sie soeben gerade gegessen hat.
Und was soll ich jetzt machen? Dasselbe wie immer. Nach dem Essen ist Nichtstun angesagt. Silencium. Stille. Ruhezeit, die wir alle auf unseren Zimmern verbringen sollen. Im Schlaf Kräfte sammeln für die beiden Höhepunkte des Tages. Kaffeetrinken am großen Tisch und danach Gruppenstunde.
Gruppenstunde, das heißt Stuhlkreis. Wir rollen uns den grünen, großen Sitzball gegenseitig zu. Oder singen: Ein Männlein steht im Walde. Mein Hut, der hat drei Ecken. Solche Sachen eben.
„Jürgen, heute Nachmittag gibt es leckeren Kakao. Schön schokoladig und heiß. Den trinkst du doch so gern! Komm nicht zu spät“, höre ich Magdalena rufen, als ich mich auf den Weg in den langen Flur mache, an dessen Ende mein Appartement liegt, wie ich meine vierzehneinhalb Quadratmeter gerne nenne.
Die Sonne geht gerade unter, als ich nach dem Abendessen mein Zimmer betrete.
„Die schlimmsten Stunden hier sind die endlosen Nachtstunden. Dann, wenn ich nicht schlafen kann und darauf warte, dass die Nacht endlich vorüber ist. Dazu all diese Gedanken im Kopf …“, hatte meine Zimmernachbarin Marion mir in einer ihrer depressiven Stunden gesagt.
Vor einigen Monaten ist sie gestorben, ihre Worte hallen manchmal in meinem Kopf. In stillen Stunden, von denen es hier mehr als genug gibt.
Hier in der Stille, da wirst du stumm, wenn du nicht aufpasst.
Heute nicht! Ich öffne mein Fenster, von dem aus ich einen schönen Blick auf die Felder habe, die im Abendrot verglimmen. Rücke den Stuhl ans Fenster. Jetzt ist die beste Zeit zum Kiffen! In absoluter Stille genieße ich den Joint. Das hatte ich mir seit Lauterbachs Cannabis-Freigabe bereits vor fast drei Jahrzehnten angewöhnt und ist auch Teil meiner Freiheit im jetzigen Leben geworden. Da können die sagen, was sie wollen.
Mein Blick fällt auf meine Schallplattenanlage, die ich als eine der wenigen Gegenstände von zuhause hierhin mitgenommen habe. Daneben steht meine elektrische Gitarre.
Time to rock´n roll, rufe ich laut, stöpsele die Strat in den Verstärker, setze mir die Kopfhörer auf und spiele die Riffs des Stones-Songs „Gimme shelter“.
Rape, murder, it´s just a shot away
It´s just a shot away
Die quälende Stille zerreißt in meinem Kopf.
Morgen wird es mein Lieblingsgericht geben: Fischstäbchen mit Pommes und Remoulade. Wenn ich Glück habe und Willy wieder einschläft, die doppelte Portion.


 

 

  © Jürgen Gebhardt        Oktober 2023

 

 

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brueckenschreiber-koblenz@t-online.de